Von Julian Traut

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Freiflug

Warum ich eine eiserne Regel breche

…und plötzlich im Job über Politik spreche Ich hatte eine Regel: Es gibt drei Themen, über die ich in der Arbeit nicht spreche – Religion, Politik und Sex. Vielleicht habe ich das irgendwann in einem Ratgeber gelesen, vielleicht bin ich irgendwo angeeckt. Egal warum, diese Regel habe ich eisern eingehalten. Ich selbst habe diese drei…

Freiflug

…und plötzlich im Job über Politik spreche

Ich hatte eine Regel: Es gibt drei Themen, über die ich in der Arbeit nicht spreche – Religion, Politik und Sex. Vielleicht habe ich das irgendwann in einem Ratgeber gelesen, vielleicht bin ich irgendwo angeeckt. Egal warum, diese Regel habe ich eisern eingehalten. Ich selbst habe diese drei Themen unter Kolleg*innen nicht angesprochen. Wenn sich ein Gespräch in diese Richtung bewegt hat, bin ich verstummt oder habe abgelenkt.

In den letzten Wochen habe ich diese Regel gebrochen: Ich habe politisch Farbe bekannt. Ich habe Kolleg*innen davon erzählt, dass ich über einen Parteieintritt nachdenke. Ich habe zum tagespolitischen Geschehen nicht nur allgemein, sondern sehr spezifisch Stellung bezogen.

Woher kommt dieses Bedürfnis, sich plötzlich Kolleg*innen auch politisch mitzuteilen? Noch dazu in einer Firma, die ich als besonders wertorientiert und menschlich wahrnehme? In der ich sowieso Konsens erwarte, wenn ich Menschenwürde und Toleranz hochhalte?

Wenn ich in mich hineinhorche, spüre ich zwei Dinge: Zum einen möchte ich mich rückversichern: Ich möchte spüren, dass nicht ich der Geisterfahrer bin; dass es mehr Menschen gibt, die entsetzt sind, welche Positionen heute in Politik und Medien trag- und sagbar geworden sind. Spüren, dass Menschlichkeit ein Wert ist, hinter dem man sich noch versammeln kann.

Zum anderen fühle ich eine Verantwortung: Wenn der öffentliche Diskurs von einer immer stärkeren Zuspitzung bestimmt wird, und Positionen scheinbar zum Mainstream werden, zu denen wir vor ein paar Jahren noch „nie wieder“ gesagt hätten, dann will ich einen Kontrapunkt setzen.

Es ist zwar ein bisschen wie das englische „preaching to the choir“ – ich spreche bei uns mit Menschen, die ich nicht überzeugen muss. Und doch ist es anders: Ich habe bisher nicht gesungen, der Chor war verstummt.

Ich habe nun angefangen leise zu summen. Ich wünschen mir, dass viele mitsummen. All diejenigen, die bisher auch geschwiegen haben. Weil sie Demokratie für selbstverständlich und Menschenwürde für genauso unantastbar hielten, wie es im Grundgesetz steht. Oder weil sie eine eiserne Regel hatten. Lasst uns einfach gemeinsam leise und sanft summen. Es könnte laut werden und gut(es) tun.


Titelbild (c)Matthew Pierce, Original zugeschnitten, verwendbar unter CC BY 2.0


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Von Julian Traut